„Wer bin ich eigentlich in dieser Beziehung?“ – Zwischen Nähe, Autonomie und Eigensinn
- denisepannicke
- 7. Sept.
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 18. Nov.
Im Fokus – oder: Wenn das „Wir“ so groß wird, dass das „Ich“ kaum noch Platz hat

Zwei Menschen lernen sich kennen, verlieben sich, und am Anfang ist alles klar: Wir gehören zusammen. Man teilt nicht nur das Bett, sondern auch Serienaccounts, Lieblingssongs und im Zweifel sogar den letzten Schokoriegel.
So schön diese Verschmelzung ist – irgendwann taucht bei fast jedem Paar die leise Frage auf: Wo bleibe ich eigentlich in all dem Wir?
Systemisch betrachtet: Paare pendeln zwischen Nähe und Autonomie
In jeder Beziehung gibt es ein ständiges Hin und Her zwischen zwei Grundbedürfnissen:
Bindung: Das Bedürfnis nach Nähe, Sicherheit und Zugehörigkeit.
Autonomie: Das Bedürfnis nach Freiheit, Selbstbestimmung und Eigensinn.
Systemisch gesehen ist es normal, dass Paare in diesem Spannungsfeld schwingen. Mal braucht einer mehr Nähe, mal mehr Abstand – und das ist kein Zeichen von Unstimmigkeit, sondern von Lebendigkeit.
Problematisch wird es nur, wenn dieses Pendeln steckenbleibt:
einer klammert, der andere zieht sich zurück,
einer verliert sich komplett im „Wir“ und merkt irgendwann: Ich weiß gar nicht mehr, was ich selbst will.
Wenn Nähe erdrückt und Distanz verunsichert
Typische Muster, die ich in der Beratung erlebe:
🔹 Das Klettband-Paar: Alles wird zusammen gemacht – bis einer plötzlich merkt, dass er kaum noch Luft kriegt.
🔹 Das Gummiband-Paar: Einer sucht Nähe, der andere geht auf Distanz. Sobald Distanz hergestellt ist, kommt wieder der Ruf nach Nähe - und das Spiel geht von vorn los.
🔹 Das Tarnkappen-Paar: Einer passt sich so stark an, dass die eigene Identität unsichtbar wird – bis er oder sie irgendwann explodiert.
Allen gemeinsam: Es geht nicht darum, ob Nähe oder Distanz „richtig“ ist, sondern wie das Paar diese Unterschiede aushandelt.
Warum ein gesundes Ich das Wir stärkt
Systemisch betrachtet gilt: Je stabiler das eigene Ich ist, desto stabiler kann auch das Wir werden. Denn wer sich selbst spürt, eigene Wünsche kennt und Grenzen setzen kann, bringt etwas Wertvolles in die Beziehung ein: Klarheit.
Statt: „Sag du mir, wer ich bin“, kann es dann heißen: „Ich weiß, wer ich bin – und ich möchte das mit dir teilen.“
Das wirkt weniger romantisch als die klassische Symbiose, aber es ist langfristig viel tragfähiger. Denn ein Paar ist kein Puzzle aus zwei halben Menschen, sondern ein Zusammenspiel zweier Ganzer.
Mit einem Augenzwinkern: Der Ikea-Test
Kennt ihr Paare, die meinen, sie müssten alles gemeinsam machen? Fahrt mal an einem Samstag gemeinsam zu Ikea. Nach Regalaufbau Nummer drei trennt sich zuverlässig die Symbiose-Romantik von der echten Beziehungsstabilität - und das ist okay – solange beide danach noch Lust haben, zusammen die Hotdogs zu essen.
BlickWechsel- Impuls für euch: Ich + Du = Wir
Die zentrale Frage lautet nicht: „Wie viel Nähe ist richtig?“ oder „Wie viel Distanz ist normal?“, sondern: „Wie können wir so miteinander leben, dass jeder von uns sein Ich-Sein behalten darf – und wir trotzdem ein Wir bilden?“
Das bedeutet:
Nähe bewusst gestalten, statt voraussetzen.
Freiraum nicht als Bedrohung sehen, sondern als Ressource.
Unterschiede nicht glätten, sondern neugierig befragen.
Übung für Zuhause: Die Gegenstandsaufstellung
Probiert doch gern Folgendes aus:
Jeder nimmt sich drei kleine Gegenstände (z. B. eine Tasse, ein Buch, ein Schlüsselbund etc.).
Ein Gegenstand steht für euch selbst, einer für den Partner/die Partnerin, einer für das „Wir“.
Stellt die Dinge so zueinander, wie es sich aktuell anfühlt.
Sprecht darüber: Wo brauche ich mehr Nähe? Wo mehr Raum? Wie fühlt sich das „Wir“ für uns an?
Es geht nicht ums „richtig“ oder „falsch“. Es geht darum, sichtbar zu machen, was sonst ungesagt bleibt.
Fazit
Paare sind kein Schmelztiegel, in dem zwei Ichs verschwinden müssen. Sie sind eher ein Tanz: manchmal eng, manchmal mit Abstand, immer in Bewegung.
Der Schlüssel liegt nicht darin, sich gleich zu machen – sondern darin, Unterschiede als Teil des Miteinanders zu sehen.
Bis zum nächsten BlickWechsel-Moment!
Denise Pannicke



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